Zwischen Tod und Leben
von Josy » Fr 1. Nov 2019, 11:28
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Er war überall. Was vorher noch gebändigt und halbwegs geordnet in eine Form gezwungen war, lag jetzt frei vor. Frei, wild, und unsagbar zerstörerisch.
Und wenn er kommt?
Dann laufen wir!
Laufen war nicht ganz richtig. Es gab hier keine Beine, keine Körper, keine Grenzen, nicht einmal Raum. Es gab nur ihn. Es. Und ich hatte ihn hierher gebracht, wo er alle Möglichkeiten hatte, die ihm in der festen Welt nicht gegeben waren.
Aber auch mir. Und ich war hier zuhause, denn dies war weder Licht noch Schatten, weder hell noch dunkel, es war einfach. Es war der Tod und das Leben. Ende und Anfang. Es war genau richtig für diesen Zweck.
Es war nötig und richtig, ihm den Raum zu geben; ihn hier wüten zu lassen, wo er nichts kaputtmachen konnte, außer den Seelen, mit denen er ohnehin in Berührung gekommen war. Denn während er sich hier ausbreitete, während ich ihn hier und dort beschäftigt hielt, drüben ablenkte und dorthin lockte, schlüpfte der Rest von mir ihm durch die Lappen - bis zu der anderen Seele, die kaum mehr als solche zu erkennen war.
In Fetzen hing sie, zerrissen und zerstückelt. Kein Mensch mehr, vielleicht nicht einmal ein Leben, aber auch noch kein Tod. Ein Etwas, das der Dämon übrig gelassen hatte, vielleicht achtlos, vielleicht aber auch weil er es brauchte für die Verbindung zu dem Körper. Die Verbindung, die es in dieser Ebene nicht mehr gab.
Ich sammelte die Stücke ein und setzte sie zusammen, verband sie mit dem Herz der Seele, das noch da war. Viel war von ihr nicht übrig. Aber mit jedem Stück nahm sie wieder ein bisschen mehr die Form einer Seele an. Oder des Schattens einer Seele - einer Seele in Entstehung.
Und mit jedem Stück lenkte ich die ungebetene Aufmerksamkeit des Dämons wieder mehr mir zu.
Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein!
Verstecken, das konnte ich. Aber nicht hier, nicht hier wo er stark war, wo ich ihm durch die Formlosigkeit Macht gegeben hatte. Ich hatte es tun müssen, um ihm die Reste der Seele zu entreißen, an die ich noch herankam, doch jetzt wo ich sie hatte - oder zumindest genug davon, um vielleicht etwas daraus zu machen - musste ich weg.
Dann laufen wir!
...
Der Raum maß vielleicht fünf Schritte von einer Wand zur anderen. Helle Tapeten an den Wänden. Es gab ein Bett, frisch und sauber bezogen, aber ungemacht, als hätte schon jemand darin geschlafen. Es gab ein Nachtschränkchen mit einer Lampe, die kein Licht abstrahlte, denn man brauchte kein Licht. Es gab eine weiße Kommode mit einem Modellflugzeug darauf, an der anderen Wand einen dazu passenden Schrank, an dessen Griff ein Lederband mit aufgefädelten Holzperlen hing. Am Fußende des Bettes gab es eine Truhe aus hellem Holz, auf dem Deckchen darauf saßen ein paar Kuscheltiere. Auf dem Holzboden lag ein Teppich mit Straßen- und Häusermuster darauf. In einer Ecke lagen ein paar Spielzeugautos und ein Dinosaurier, in einer anderen eine Holzeisenbahn und verstreute Wachsmalstifte. Unter dem Bett ragten eine Schlafanzughose und eine verlorene Socke hervor.
Ein ganz normales Kinderzimmer.
Es gab keine Tür. Eine Tür war zu gefährlich. Ich hatte den Raum um uns herum gebaut, um uns zu schützen. Eine Tür hätte einen Weg hinein bedeutet.
Ich stand in der Mitte des Raumes, am Rand des Autoteppichs, und blickte mich aufmerksam um. Ich war grau und farblos, genau wie der Rest meiner Umgebung, denn Farben konnte es hier nicht geben. Meine Haare waren offen, so wie immer, und ich trug mein kurzärmliges Nachthemd. Barfuß verlagerte ich mein Gewicht von einem auf den anderen Fuß und grub die Zehen in den Teppich. Meine Hände hatte ich hinter dem Rücken verschränkt. Sie waren schwarz bis zu den Ellbogen. Wie verbrannt. Der Rest meiner Haut war totenbleich. Ich lauschte.
Es war still. Er wusste wo wir waren, oder hatte zumindest eine Ahnung davon, aber dennoch musste er uns erst finden. In einem festen Raum herrschten andere Regeln als im Nichts. Das sollte uns ein wenig Zeit verschaffen. Auch so etwas wie Zeit gab es jetzt wieder, nachdem ich den Raum geschaffen hatte.
Vorerst zufrieden senkte ich den Blick auf den Jungen, der in der Nähe der Kommode auf dem Teppich saß. Das was von ihm übrig war. Auch der Seele hatte ich eine Form gegeben, oder besser gesagt hatte ich ihr in die Form geholfen, die ihr eigen war.
Ich trat zu dem Jungen und hockte mich vor ihn, den Blick aufmerksam auf ihn gerichtet.