Re: *Liennas und Norahs Hütte
von Lienna » Di 3. Sep 2019, 18:27
Nachdem es vollkommen dunkel geworden und ich Norah in unserer Hütte zum Schlafen zurückgelassen hatte, zog ich wieder los und schlenderte zwischen den Bäumen entlang zur Straße. Nun, für jemanden der in Städten gewohnt hatte, war das hier kaum mehr als ein Trampelpfad, gerade breit genug um einen Karren oder eine Kutsche zu beherbergen, aber für mich, die noch aus einer Zeit ohne Asphalt stammte, war es Straße genug. Ich folgte ihr, bis ich das Dorf weit genug hinter mir gelassen hatte, dann rief ich meine Flügel und schwang mich hinauf in die kühle Nacht.
Ich blieb auf dieser Seite der Insel und suchte mir meine Mahlzeit im Wald bei den Tieren. Einfach war es nicht, und zudem nur sehr unbefriedigend. Die Jagd auf Menschen war so viel leichter, auch wenn gerade sie durch die Veränderungen auf der Welt schwieriger geworden war. Es verging keine Nacht, in der ich mir keine Gedanken darum machte. Und ich wusste bereits, dass ich mir dabei Hilfe suchen musste. Heute war das Hadern darum auch endlich vorbei, denn ich hatte einen Entschluss gefasst.
Etwa drei Stunden vor Sonnenaufgang kehrte ich zum Dorf zurück, allerdings auf dessen südöstlicher Seite. Mein Ziel war ein Haus das ebenfalls ein wenig abseits stand, wie man mir gesagt hatte. Ich hatte lange überlegt, aber schließlich entschieden, dass es die beste Möglichkeit war, hierher zu kommen.
Das Haus war größer als unsere Hütte, war aber genauso einfach gebaut, wie so viele hier. Die Fensterläden waren geschlossen und es war dunkel. Der Herzschlag darin schlief. Ich setzte mich auf einen moosbewachsenen Stein und wartete.
Der Himmel war bereits heller geworden, und tatsächlich ging meine Rechnung auf und der Herzschlag erwachte nach kurzer Zeit, noch vor Sonnenaufgang. Trotzdem wartete ich noch, bis die Person einige Male im Haus hin und her gegangen war, ehe ich aufstand und an die Tür trat, um zu klopfen. Der Herzschlag hielt inne und kam dann in meine Richtung.
Ein bärtiger Mann mit Kleidung aus Leder und Fellen öffnete mir und senkte den Blick prüfend auf mich. Offensichtlich war er überrascht, mich zu sehen. Dann aber schlich eine Erkenntnis in sein Gesicht.
"Ach, du bist eine von den Neuen, nich'?", fragte er ein wenig misstrauisch.
Ich nickte und er fügte hinzu: "Hab von euch gehört." Ich konnte es mir vorstellen. Im Dorf verbreiteten sich Neuigkeiten scheinbar schnell.
"Mein Name ist Mina", stellte ich mich mit dem Namen vor, den ich hier im Dorf benutzte. "Und Ihr müsst wohl Bendrich sein, nicht wahr?" Ganz automatisch fiel ich wieder einmal zurück in die heutzutage veraltete Höflichkeitsform, die ich mir nie ganz hatte abgewöhnen können. Wenn ich schnell genug daran dachte, vermied ich sie eher, aber in einer solchen Atmosphäre wie hier in Kaua dachte ich nicht immer sofort daran.
"Ja, genau", bestätigte der Bärtige. "Aber ich muss gleich los, hab also nicht viel Zeit."
"Ich will Euch auch nicht lange aufhalten. Ich habe nur eine Bitte. Man sagte mir, Ihr stellt gute Bögen her."
Bendrich grunzte. "Die besten in ganz Kaua." Interessiert sah er zu mir hinab. Er war ziemlich groß, und vor allem in solchen Situationen hasste ich mein kindliches Äußeres. Da half es auch nicht, dass ich einen Schritt von der Tür zurückgetreten war, ich musste trotzdem den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm zu sehen.
"Ich brauche einen Bogen, der für meine Größe und Statur geeignet ist. An Kraft und Können fehlt es mir nicht, macht Euch darum also keine Gedanken."
Zwar schien er mit dieser Anfrage gerechnet zu haben, überzeugt wirkte der Mann aber trotzdem nicht. "Und wofür brauch' jemand wie du 'nen Bogen?", wollte er wissen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Aus dem gleichen Grund wie Ihr: um zu jagen natürlich. Auch ich habe meine Bedürfnisse. Was Euch natürlich nichts angeht. Also, was verlangt Ihr für einen Bogen?"
Bendrich überlegte einen Moment lang, dann grunzte er wieder. "Weißte was, ich überleg mir was, ja? Na schön. Was willste für nen Bogen haben?"
Als ich mit ihm über die Art des Bogens und die Qualität der Materialien sprach, merkte er wohl zum ersten Mal wirklich, dass ich sehr wohl Ahnung hatte. Es war interessant. Bei den wenigen Personen, die die Wahrheit über mich kannten, merkte man bei einem Gespräch ganz genau, wann der Punkt gekommen war, an dem sie aufhörten mich wie ein Kind zu sehen und begannen mit mir zu reden wie mit einer Erwachsenen. Dieser Punkt kam nun ebenfalls für Bendrich.
"Ich mach dir deinen Bogen, Miss", versprach er dann und nahm sein eigenes Jagdwerkzeug mit, als er aus dem Haus trat. "Aber jetzt muss ich los. Wird schon bald hell. Komm in einer Woche nochmal vorbei."
Ich nickte und bedankte mich höflich, dann gingen wir getrennte Wege. Ich verzichtete auf meine Schwingen und nahm den Weg zu Fuß durch das Dorf, wo die meisten noch schliefen, um zurück zur Hütte zu kommen. Auch Norah schlief noch, aber als ich vorsichtig eintrat und die Tür hinter mir schloss, räkelte sie sich ein wenig und blinzelte. Sie wachte manchmal kurz auf, wenn ich zurück kam; dann lächelte sie mir, wie jetzt auch, leicht zu, mit diesem verschlafenen Ausdruck im Gesicht, der sie für mich wahrscheinlich für immer wie ein Kind aussehen lassen würde, und murmelte mir flüsternd ein "Guten Morgen" entgegen.
Manchmal kam ich zu ihr, hockte mich an ihr Bett und sprach mit ihr. Vor allem wenn ich sah, dass sie wieder Albträume gehabt hatte. Aber heute nicht. Heute war sie friedlich, und so hob ich nur die Hand zum Gruß, auch wenn sie das wohl schon nicht mehr sah, und schlüpfte durch die Hintertür in mein kleines Zimmerchen. Still wartete ich ab, bis Norahs Herzschlag wieder ruhig ging und sie eingeschlafen war. Erst dann legte auch ich mich zur Ruhe.
Norah würde wohl am späten Vormittag aufstehen, während ich erst zum Abend hin wieder aus meinem leichten Vampirschlaf erwachen würde.
----> Strand